Sommer
06. Juli 2020


Ich war frei, ich war glücklich, ich war auf einem Höhenflug!
Das Gefühl nach beinahe drei Wochen ohne Alkohol war einfach unglaublich. Die Schwierigkeiten der ersten Tage lösten sich langsam auf. Der körperliche Entzug von Alkohol dauert in etwa sieben bis zehn Tage und ich merkte wie jeder Tag ohne Alkohol mir mehr Erfahrung und Sicherheit für den nächsten Tag gab. Der freigewordene Raum in mir füllte sich mit Hoffnung, einem Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit. Zum ersten Mal seit Jahren erlebte ich die Welt wieder wie ich sie nüchtern schon lange hätte erleben können. (Vielleicht sogar noch blumiger.) Ich schwebte auf meiner rosa Wolke, wie dieser Zustand in der frühen Abstinenz oft genannt wird, und genoß es in vollen Zügen.
Die Gründe für dieses natürliche Hoch und die Erkenntnisse, die ich zu dem Zeitpunkt gewonnen hatte, habe ich damals gesammelt und würde sie jetzt gerne mit euch teilen:
Ich habe meine Morgen zurückgewonnen!
Ich bin auch heute noch unglaublich dankbar über jeden Morgen, den ich heute erleben kann. Gerade zu Beginn aber war es so eine unglaubliche Erleichterung ohne Kater und Schuldgefühle aufzuwachen. Am ehesten kann ich es vergleichen mit dem Gefühl, wenn Schmerzen nachlassen. Man hat Rückenschmerzen, Unterleibskrämpfe und sie lassen nach und verschwinden.. Dieses Abfallen von etwas Negativem, ohne, dass es unbedingt mit etwas anderem gefüllt werden muss. Das gibt dem Morgen eine Leichtigkeit, über deren Entdeckung ich mich noch immer freuen kann.
Ich habe einen gesunden Schlaf!
Als ich noch getrunken habe, war ich überzeugt davon, dass ich massive Schlafprobleme habe und dies ungeachtet meines Alkoholkonsums. Ich hatte Probleme einzuschlafen, Probleme durchzuschlafen, mein Kopf hörte nicht auf zu denken! Meistens wachte ich zwischen drei und fünf Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Wenn es besonders schlimm war, habe ich morgens um fünf Uhr angefangen in unserer WG die Fenster zu putzen, weil meine Gedanken einfach keine Ruhe gegeben haben. Tja…turns out…daran war wohl zum großen Teil der Alkohol Schuld. Denn nach zwei bis drei Wochen fiel mir das Einschlafen immer einfacher und auch das Durchschlafen war plötzlich kein Ding der Unmöglichkeit mehr.
Ich Schlafwandel nicht mehr!
Mein Schlafwandeln hat während dem letzten Jahr in meinem Master Studium angefangen. Ich habe erst viel später erfahren, dass Stress gepaart mit Alkohol bei mir die Auslöser dafür waren. Ich bin teilweise in anderen Betten aufgewacht, habe in den Zimmern meiner Mitbewohner das Licht angemacht. In einer Nacht bin ich zur Wohnungstür raus, drei Stockwerke nach unten in den Keller gelaufen und habe dort alle Lichter angemacht. Das Schlafwandeln hat oft für lustige Geschichten hergehalten, aber das Gefühl keine Kontrolle und keine Erinnerung mehr daran zu haben, ist wirklich alles andere als schön. Auch heute viele Monate nach meinem Nüchternwerden, gehört das Schlafwandeln meiner Vergangenheit an.
Panikattacken, Angstzustände, Stress und Überforderung sind schwächer geworden (vor allem aber, besser zu handhaben!)
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, es geht mir die ganze Zeit gut, mein Leben ist ohne Alkohol auf einmal perfekt. Ich dachte, ich trinke, weil ich gestresst bin, mich schlecht fühle, ich Angst habe und depressiv bin. Das war einer meiner größten Irrtümer, während ich noch getrunken habe! Denn ziemlich schnell nachdem ich damit aufgehört habe, durfte ich feststellen, dass Alkohol einen sehr großen Anteil an meiner mentalen Instabilität hatte. Heißt nicht, ich bin geheilt, aber ohne den negativen Einfluss vom Alkohol fühlt sich alles viel einfacher zu managen an.
Wissen ist Macht!
Ich habe meine stabile Nüchternheit vielen wunderbaren Menschen zu verdanken, die ihre Erfahrungen in Büchern, Podcasts und Blogs geteilt haben. Die ersten Wochen habe ich alles verschlungen was ich zu dem Thema finden konnte und die Erkenntnisse, die ich aus diesen ganzen Werken gewonnen habe, haben es geschafft mich in meinem Entschluss und meiner Person immer mehr zu kräftigen und zu stärken! Zu verstehen wie Alkoholsucht funktioniert, hat mir so viele Schuldgefühle genommen und mich auf meinem Weg so viel selbstbewusster gemacht.
Ich bin nicht allein!
Manchmal frage ich mich warum ich nicht schon viel früher auf die Suche nach Gleichgesinnten gegangen bin, ich glaube ich habe meine Zeit gebraucht, um bereit zu sein mir meine Probleme mit dem Alkohol wirklich einzugestehen. Als ich den Schritt aber letztlich gegangen bin, war ich überwältigt von all den wunderbaren Menschen, die ein Leben frei vom Alkohol führten und damit auch sehr glücklich wirkten. Das was ich mir in meiner Sucht nie vorstellen konnte – ein glückliches Leben ohne Alkohol – wurde mir von ihnen vorgelebt und war ein unglaublicher Motivator für die ersten paar Wochen.
All diese wunderbaren Gründe haben mich auf meiner rosa Wolke getragen und gehalten und auch wenn all diese Punkte noch immer zutreffen, muss ich zum Ende hin trotzdem noch einmal sagen, dass diese rosa Wolke mit etwas Vorsicht zu genießen ist. Denn, so schön diese ersten Wochen sind, so beflügelnd die Erkenntnisse über das nüchterne Leben sind – Spoiler Alert – es gibt trotzdem noch ziemlich beschissene Tage. So richtig ätzende, stressige Tage voller Enttäuschung, Trauer und Wut. Und das sollte man im Hinterkopf behalten und sich darauf vorbereiten. Ich hatte inzwischen einige dieser Situationen, in denen mein angelernter Mechanismus gewesen wäre, jetzt die Flasche Wein zu öffnen. So schön es also ist dieses Hoch zu verspüren, so wichtig ist es, sich auch auf die Tiefs vorzubereiten.