„Die Dosis macht das Gift“

„Die Dosis macht das Gift.“

Diesen Satz lese ich immer wieder. Meist unter Beiträge gesetzt, die Alkoholkonsum kritisieren, dient er den Trinkenden gerne dazu den lieben Alkohol wieder ins rechte Licht zu rücken.

„Ein Glas Rotwein am Tag ist doch gesund! Habe ich gehört…irgendwo. Da gibt es Studien!!“ Dass es ein Glas Traubensaft am Tag ebenso tun würde, sparen die Studien gerne aus. Schließlich ist das für den Weinverkauf wenig förderlich.

„Die Dosis macht das Gift“

In diesem Satz schwingt auch gleich noch die schöne Kritik mit, dass man selbst Schuld ist, wenn man eine Abhängigkeit entwickelt. Das Problem kann unmöglich bei der abhängigmachenden Substanz Alkohol liegen, nein, das Problem liegt beim Konsumenten, der sich einfach nicht an die richtige Dosis hält. Wäre das Problem beim Alkohol zu finden, wäre das gar nicht schön für die Verkaufszahlen.

Je länger ich über diesen Satz nachdenke, desto mehr ärgert er mich. Die Dosis macht das Gift. Bei Salz oder Wasser lasse ich diesen Satz gerne gelten, beim Alkohol stößt es mir aber bitter auf. Schon ein einziges Glas Alkohol ist schädlich für die Gesundheit. Es wird einen schätzungsweise nicht umbringen, das tut eine Zigarette auch nicht und doch habe ich den Satz noch nie im Zusammenhang mit Tabakkonsum gehört. Ist im Übrigen immer ein guter Test um Glaubenssätze zu Alkohol zu testen. Alkohol mal mit Zigaretten ersetzen und gucken ob es sich immer noch richtig anhört.

Bei Alkohol ist es nun mal so, dass der Alkohol das Gift macht, da der Alkohol nun mal das Gift ist.

Ob man ihn nun trinkt oder nicht darf jeder mit sich selbst ausmachen, man sollte nur nicht der Illusion erliegen, dass man dem Körper damit nicht schaden würde.

Vom Nüchtern werden und nüchtern bleiben

an meine liebe Freundin

Seitdem ich aufgehört habe zu trinken, frage ich mich, was es war, dass ich es an diesem einen Tag geschafft habe, nicht wieder abends zum Supermarkt oder spätabends zur Tankstelle zu gehen und mir meinen Alkohol der Wahl zu kaufen. Und was dazu geführt hat, dass ich es am nächsten Tag wieder geschafft habe und dann wieder. Jetzt könnte man hingehen und sowas sagen wie: „Das war eben der richtige Zeitpunkt für dich!“ oder „Du warst dann erst wirklich bereit!“ Und auch wenn diese Antworten stimmen mögen, sind sie irgendwie unglaublich unbefriedigend und wirken mir zu passiv. Als hätte ich es selbst nicht in der Hand gehabt und als würde man meinem aktiven Handeln von damals nicht genug Annerkennung zollen.

Wusste ich damals was ich tat und was zum Erfolg führen würde? Absolut nicht! Das zeigen allein die vielen Versuche zuvor, die alle weniger erfolgreich waren. So ein bisschen wie wenn man versucht einen IKEA Pax Schrank mit Schiebetüren aufzubauen und das ohne Anleitung. (jeder, der das schon mit Anleitung versucht hat, wird verstehen, was ich meine.) Manche Sachen sind einem relativ schnell klar, das sind die Türen, hier die Regalbretter, das wird das Seitenteil sein. Aber wie zur Hölle funktioniert die Mechanik rund um diese verdammten Türen herum?! Aus gescheiterten Versuchen und falsch gesetzten Schrauben kann man lernen und sich so langsam an den richtigen Gebrauch des Bausatzes herantasten. Man könnte den Kundenservice natürlich um eine Anleitung bitten und das wäre auf jeden Fall ein sinnvoller Weg! Professionelle Hilfe gibt es in vielen Formen und Farben was Alkoholabhängigkeit angeht! Ich jedoch bin schon im Supermarkt schlecht darin, um Hilfe zu bitten, wenn ich etwas nicht finden kann und hätte es damals mit meiner Alkoholabhängigkeit noch viel weniger geschafft.

Ich wollte es also alleine schaffen! Mir hat der Gedanke vor meinen Liebsten zuzugeben, dass ich ein Problem mit Alkohol habe, so eine schreckliche Panik gemacht, dass ich es niemandem erzählen konnte, den ich kannte. Das führt mich aber auch schon zu meinem ersten Teil in meinem Bausatz.

1. Es ist unglaublich hilfreich einmal wirklich vor anderen auszusprechen, dass man eine Alkoholabhängigkeit hat!

Aus beschriebener Panik, habe ich es nicht übers Herz gebracht, das bei persönlichen Kontakten zu machen. Ich hätte es mich genauso wenig getraut es face to face in einer Selbsthilfegruppe oder bei einem Arzt zu tun. All das sind absolut valide und gute Möglichkeiten, ich hatte dafür selbst leider viel zu viel Angst. Also habe ich die anonyme Onlinevariante gewählt, die sich für mich am sichersten angefühlt hat und im Forum der „I am Sober“ App in den ersten Tagen alle meine Gedanken, Angstattacken, Erfahrungen usw anonym mit anderen geteilt. Das war so der erste Funken an Community und Nicht-Alleinsein, den ich dort erfahren konnte und ich hätte vorher niemals gedacht wie gut es getan hat, einmal alles loszuwerden, was mir auf der Seele gebrannt hat. Einmal anonym bei Instragram, „I am Sober“ oder anderen ähnlichen Foren loswerden, was einen umtreibt. Was ich bei „I am Sober“, in den ersten Tagen geschrieben habe, hat bisher auch niemand, den ich kennen, zu sehen bekommen. Das ist für mich und die Community dort und so darf es auch bleiben.

2. Sich selbst und die eigenen Trigger kennenlernen, analysieren und diese um jeden Preis vermeiden!

Ich habe wirklich viel Zeit damit verbraucht über Alkohol und unsere toxische Beziehung nachzudenken. Das war gut ein Jahr bei meiner Top 10 Themenliste ganz oben! Ich wusste durch die vielen Fehlversuche was meine Trigger sind und die gilt es zu vermeiden! Am Anfang wirklich um jeden Preis! Meine Nüchternheit ist wichtiger als alles andere!! Das hieß für mich unter anderem: Kein Alkohol im Haus; kein Einkaufen gegen Nachmittag oder Abend; kein Telefonieren am Abend; keine Zigaretten; kein Essen gehen, keine Kneipen- oder Barbesuche mit trinkenden Freunden; möglichst schnell in den Schlafanzug schlüpfen, um den Weg nach draußen zum Alkohol umständlicher zu machen. Wenn man sich einmal sicherer fühlt, ist das alles kein Problem mehr, aber gerade am Anfang habe ich lieber einmal mehr eine Verabredung abgesagt, als das Risiko einzugehen.

3. Kein Alkohol! Alles andere ist erlaubt. Schoki! Komm zu Mama!!

Der Verzicht auf Alkohol ist mir in den ersten Wochen schon schwer genug gefallen, da habe ich mir alle anderen Gelüste erlaubt. Mit Schokolade, Chips und Limo am Abend. Kein Problem! Solange ich nicht trinke! Der Körper ist durch den Alkohol so viel Zucker gewöhnt, dass man mit dem Aufhören oft diese Gelüste entwickelt und ich hab ihnen voll nachgegeben. Das muss nicht der Weg für alle sein und viele warnen davor. Ich bereue es nicht. Ich habe damals dieses Belohnen und anderweitig zufriedenstellen gebraucht! Die Jahre davor und auch das Aufhören selbst, waren eine harte Zeit für mich und meinen Körper und da dachte ich mir, darf man sich belohnen und sollte gütig mit sich selbst umgehen. Seien das nun Süßigkeiten, ein langes Bad, ein neues Kleid oder Ähnliches.

4. Wissen ist Macht!

Mein erstes Buch, dass mich durch die ersten Tage der frischen Nüchternheit begleitet hat, war „Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein“ von Catherine Gray. Diese wunderbare, inspirierende, starke Frau hat mit ihrem Buch und ihrer Geschichte einen Großteil dazu beigetragen, dass ich es geschafft habe, nüchtern zu bleiben und sogar Stärke in meiner Nüchternheit zu finden. Inzwischen habe ich einiges an Quit Lit gelesen und Autor:innen wie Holly Whitaker, Annie Grace, Daniel Schreiber uvm. haben mich in ihren Büchern an die Hand genommen und mir gezeigt was Alkohol wirklich ist, wie verkorkst unsere Gesellschaft damit umgeht und wie schön ein nüchternes Leben sein kann. Wer nicht lesen will, findet viele dieser Bücher als auch Hörbuchversion. Außerdem gibt es ganz tolle Podcasts im deutschsprachigen und englischsprachigen Raum, die sich mit dem Nüchternsein und Alkoholsucht beschäftigen. Mein allerliebster Sodaklub, Me|Sober., Nüchtern betrachtet oder This Naked Mind Podcast, A Sober Girls Guide uvm. Gerade am Anfang war es für mich unglaublich wichtig mehr Wissen über meine Sucht, aber auch über die Bedeutung von Alkohol in der Gesellschaft zu erlangen, um mein Verhältnis zu Alkohol mal zu hinterfragen und grundlegend zu ändern. Außerdem hat bei mir da irgendwann ein richtiges Zusammengehörigkeitsgefühl eingesetzt und ich will meine Sober Community nicht mehr missen. Nüchtern sein ist Rebellion!

5. Alkohol verursacht und verstärkt Angstzustände, Depressionen, Stress und Panikattacken!

Dieses Wissen war für mich in den ersten Wochen essentiell wichtig. Denn mit dem Weglassen vom Alkohol fühlt man sich mit diesen Gefühlen schnell allein und irgendwann so verzweifelt, dass man doch wieder nachgibt. Das Wissen zu haben, dass der Alkohol Schuld ist an diesen Gefühlen war unglaublich hilfreich darin ihm zu widerstehen. „Ich habe genug von dir, Dolores! I must not tell lies! Und jetzt hör auf mir einzureden, dass ich Alkohol bräuchte!“ (Ja ich habe meine Alkoholstimme nach der schrecklichen Dolores Umbridge aus Harry Potter benannt) Der Satz: „Du fühlst dich gerade so elend wegen dem Alkohol!“ hat mich vor so mancher schlechten Entscheidung am Abend bewahrt. Und diese Verzweiflung hält nicht ewig an. Es wird irgendwann leichter, man sieht mehr Vorteile als Nachteile und die Angstzustände werden deutlich weniger!

6. Das Leben hört ohne Alkohol nicht auf, es fängt erst an!

Ich dachte wirklich ohne Alkohol wird mein Leben langweilig, öde und einsam. Und mit dem Gedanken bin ich ganz sicher nicht allein. In den ersten Wochen der Nüchternheit durfte ich aber nach und nach merken, dass das so gar nicht der Wahrheit entspricht. Was ich stattdessen gefunden habe, ist das absolute Gegenteil. Wer auf der Suche ist nach Community und Gemeinsamkeit, der kann diese inzwischen in Deutschland finden. Auch die Gespräche mit Freunden und Familie zu dem Thema haben nicht dazu geführt, dass ich verstoßen wurde, sondern haben mich wieder näher zu ihnen geführt. Vor allem aber habe ich wieder mehr zu mir selbst gefunden. Ich bin zufriedener, ruhiger und stabiler und das möchte ich um nichts in der Welt missen.

7. Meine persönliche „Früher hättest du in der Situation getrunken“ – Liste

Mit dem Alkohol aufzuhören, ist schon eine riesige Leistung! Das ist mit Abstand das Krasseste was ich jemals in meinem Leben geschafft habe! Und dafür darf, kann und sollte man sich auch mal selbst loben. Bei mir passiert das in Form meiner im Kopf geführten Liste, der Situationen, in denen ich früher getrunken hätte. Erster Streit mit dem Freund – nicht getrunken. Hund muss operiert werden – nicht getrunken. Konfliktsituation bei der Arbeit – nicht getrunken. Mein Punkt ist, man sollte sich vor solchen Situationen wappnen und man sollte sich genauso abfeiern, wenn man sie ohne Alkohol durchstantden hat. Erst kürzlich wurde meine Hall of Fame – Nina Alcohol Edition – noch erweitert mit einer weiteren Liste: „Als du noch getrunken hast, hättest du dich das niemals getraut!“ Chefin nach Gehaltserhöhung gefragt – check! Termin bei der psychiatrischen Sprechstunde gemacht – check! Im Gespräch mit meinem Freund für mich eingestanden und Boundaries gesetzt – check! Wie cool ist das bitte?! Ich lerne endlich für mich einzustehen und mir selbst was Wert zu sein. Das musste ich im Nüchtern sein wirklich komplett neu lernen. Alkohol hat mein Selbstwertgefühl ganz schön ertrunken!

Es wäre jetzt natürlich genial, wenn das die Universalanleitung wäre, die uns endlich klar und deutlich erklärt wie diese dummen Schiebetüren richtig eingebaut werden, aber ganz so einfach ist es leider nicht. So viele Schrankmöglichkeiten es für das Schlafzimmer gibt, so viele Wege in die Nüchternheit gibt es. Das Schöne ist, es gibt diese ganzen verschiedenen Wege, sodass jede:r den Weg finden kann, der für sie/ihn am besten passt.

Mein Hund oder der Alkohol!

Als er als kleiner Welpe zu mir kam, hatte er Angst vor der Welt. Alles war zu groß, zu schnell, zu laut und zu viel. So ähnlich ging es mir zu dem Zeitpunkt mit meinem Leben. Ich hielt eisern daran fest wie es einmal war und merkte doch wie es mir täglich mehr und mehr entglitt.

Während er also vor Angst zitternd keinen Schritt nach draußen machte, griff ich jeden Abend zur Flasche, weil ich Angst hatte und Gefühle, die so groß waren, dass ich nicht wusste, wie ich sie anders bewältigen sollte.

Ein Teil von mir hatte gehofft, dass mit ihm alles besser werden würde und ich dann keinen Grund mehr zum Trinken haben würde. Oder besser, endlich einen triftigen Grund zum Aufhören hätte. Er sollte mein Retter sein, mein Lichtblick im tiefen Tunnel der Depression und Alkoholsucht. Jeden der Ähnliches hofft, muss ich leider enttäuschen. So funktioniert es leider nicht mit diesen Dingen. Die plötzliche Wunderheilung durch den Hund ist nicht eingetreten (die musste durch mich selbst kommen). Es war vor allem zu Beginn nur eine weitere Mammutaufgabe mehr, die ich meinem ohnehin schon überforderten Ich auferlegte.

Das soll nicht falsch verstanden werden. Ich hatte mir über Jahre einen Hund gewünscht und meine Entscheidung mehr als gründlich durchdacht, bevor ich ihn zu mir geholt habe. Ich war bereit diesem Hund alles zu geben! Ich möchte aber auch nicht leugnen, dass die kleine Hoffnung der Wunderheilung trotzdem bestand.

Tatsächlich waren die ersten Wochen und Monate eine riesige Herausforderung und eine unglaubliche Belastung. Ich würde es zwar jederzeit wieder für ihn tun, aber ich wünsche mir die Zeit wirklich nicht zurück! Der Kleine wurde mit sechs Wochen mit seinen Geschwistern alleine auf der Straße gefunden. Er kannte nichts und fürchtete alles. Er brauchte Zeit und ich machte mir selbst Druck, weil ich wusste, dass die Zeit begrenzt war, bis wir zusammen in die große Stadt zu meiner Arbeit fahren müssten. Vor allem das Autofahren löste in ihm die ersten Monate eine so riesige Panik aus, dass er sich teilweise übergeben musste, bevor ich den Motor überhaupt angemacht hatte. Irgendwann war meine Verzweiflung mit seiner Angst vor dem Autofahren so groß, dass ich mindestens genauso panisch wie mein Hund zu meiner Tierärztin ging und um Rat fragte. Zu dem Zeitpunkt war ich noch immer allabendliche Weintrinkerin/Emotionales Wrack. Sie meinte unter anderem, ich solle mal ein Glas Wein trinken und mich mit ihm dann ins Auto setzen (natürlich ohne zu fahren), damit ich meine eigene Anspannung in den Griff bekomme. Der Satz ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sie damit unwissentlich einen Vorschlag gemacht hatte, der unpassender nicht hätte sein können für meine damalige Situation.

In einem hatte sie aber Recht. Ich hatte hier einen hypersensiblen und unsicheren Hund, der sich in seinem Verhalten und seinen Gefühlen unglaublich an mir orientierte und meine Gefühle waren „all over the place“! Meine Anspannung, mein Selbsthass, meine Verzweiflung und Überforderung wirkten sich direkt auf ihn aus und hinderten ihn daran seine Ängste zu überwinden. Um ihm zu helfen, würde ich zuerst mir selbst helfen müssen.

Verdammt, das hörte sich nach Arbeit! Und das ist es ganz ehrlich noch immer. Ich habe den Absprung vom Alkohol geschafft. Für mich und für ihn. Er hat gelernt Auto zu fahren ohne in Panik zu geraten. Für ihn und für mich. Stehen meine Gefühle mir noch im Weg und nehme ich mir Sachen zu schnell zu Herzen? Ja! Eindeutig! Führt seine Unsicherheit ihn noch zu Übersprunghandlungen und dummen Entscheidungen? Auf jeden Fall! Aber wir arbeiten daran. Gemeinsam. Vielleicht hat sich die Hoffnung doch ein wenig bewahrheitet. Vielleicht haben wir uns doch gegenseitig gerettet.


Morgen-Ich zu Abend-Ich.

Alkohol

raubt dem

Morgen

das Glück!

Während ich noch getrunken habe, war der Morgen eines jeden Tages eine schreckliche Tortur. Ein wirklich schlimmer Kater mit Kopfschmerzen und Übelkeit ereilte mich meistens zwar nur noch, wenn ich die Weinsorte wechselte, deutlich über meine Toleranz trank oder zuvor ein paar Tage mit dem Trinken ausgesetzt hatte, trotzdem zahlte ich den Preis für die ein einhalb Weinflaschen des Vorabends!

Eigentlich verlief jeder Abend gleich. Ich torkelte nach ein einhalb Flaschen Wein ins Bett, die quälenden Gedanken endlich betäubt – zumindest hoffte ich das – und hatte teilweise trotzdem Probleme einzuschlafen. Zur magischen Stunde des Alkohols um drei Uhr nachts wachte ich auf, nur um dort schon anzufangen den Vorabend zu bereuen und mir Vorwürfe zu machen. An wirklichen Schlaf war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken. Wenn der Wecker morgens um sechs Uhr klingelte, war ich alles andere als bereit mich dem neuen Tag und meinem Leben zu stellen. Der Zwiespalt in mir war irgendwann so groß, dass es mir vorkam als hätte ich zwei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten. Das nüchterne Morgen-Ich und das alkoholsüchtige Abend-Ich.

Mein Morgen-Ich war voller Selbsthass und verzweifelt vor Angst vor dem kommenden Abend. Denn mein Morgen-Ich war sich meiner Situation sehr bewusst und versuchte alles was ihm einfiel, um mich auf den Abend vorzubereiten und stark zu machen gegen den Alkohol. Es schrieb Nachrichten an das Abend-Ich und verteilte sie im Haus. Schrieb Erinnerungen ins Handy und nahm Videos auf mit der Bitte die Hände vom Alkohol zu lassen. Es schüttelte den übrigen Alkohol im Haus in den Ausguss, auch wenn es schon ahnte, dass am Abend neuer gekauft werden würde. Trotz aller Verzweiflung und allem Selbsthass, war mein Morgen-Ich auf seine Weise stark und gab die Hoffnung nie vollkommen auf. Es kämpfte für einen besseren Morgen! Ganz gleich wie oft wir am Abend wieder scheiterten. Mein Abend-Ich kämpfte auf seine Weise. Mal mehr, meistens weniger. Deshalb habe ich mir lange Vorwürfe gemacht. Heute weiß ich, mein Abend-Ich war nicht das Böse in diesem Kreislauf, der sich Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat wiederholte. Der Alkohol war der Böse! Ich kämpfte alleine gegen eine Sucht und dieser Kampf wurde erst leichter, als ich merkte, dass ich in meinem Kampf doch nicht so alleine war.

Heute kann ich es noch immer nicht glauben wie wunderschön der Morgen sein kann. Sicher bin ich an Tagen wacher und ausgeschlafener als an anderen, aber ich habe meinen Morgen wieder ganz allein für mich. Ich bin in mir einig. Ohne Selbsthass, ohne Zwiespalt, ohne Verzweiflung und Überforderung vom Leben. Ich versuche meinen Morgen in vollen Zügen zu genießen und jeden Morgen flüstert mein Morgen-Ich meinem Abend-Ich ganz leise ein „Danke“ zu!

Von toxischen Beziehungen!

101 Versuche


… die ich unternommen habe, bevor ich bereit war mit dem Alkohol Schluss zu machen!

Als meine Beziehung mit dem Alkohol mehr und mehr in die Brüche ging und ich das Gefühl bekam, dass er mir mehr nahm als er mir geben wollte, war ich noch lange nicht bereit den Schritt zu gehen diese Beziehung für immer zu beenden. Hier stand ich in einem Meer aus Scherben der hunderten geleerten Weinflaschen und war bereit für unsere Beziehung zu kämpfen und sie vor mir und der Welt zu verteidigen solange es mir irgendwie möglich war!

Es war schließlich nicht immer so! Wir hatten auch gute Zeiten! Richtig gute Zeiten! Wir hatten so viel Spaß gemeinsam! Auch, wenn ich zugeben muss, dass ich mich nicht mehr an alles davon klar erinnern kann, so bin ich mir sicher, dass es richtig gute Zeiten waren! Viele Jahre hat der Alkohol mich durch meine Jugend und meine Studienzeit begleitet. Wir haben so viel Großartiges und Schweres gemeinsam erlebt und durchstanden. So viele gemeinsame Freunde gefunden, auf Konzerten die Nächte durchgetanzt. Wir waren ein tolles Paar! Bis wir es nicht mehr waren.

Sicher, in den letzten Monaten und Jahren hat einiges begonnen zu bröckeln, wir hatten viele Abstürze und verbrachten zu viel Zeit miteinander, aber solche Probleme gibt es doch in jeder Beziehung. Wenn wir uns nur richtig anstrengen, dann kommen wir wieder zu unserer alten glorreichen Zeit zurück. Und mit wir, meine ich mich. Denn ich bin schuld an diesem Problem. Ich muss die Schuldige sein, denn alle anderen haben augenscheinlich eine normale Beziehung mit ihm. Ich wollte immer mehr und mehr und habe begonnen seine Liebe Tag für Tag aufs Neue einzufordern. Ich muss die Schwache in unserer Beziehung sein. Ich kann nicht Nein sagen und mit ihm umgehen wie man es „normalerweise“ tut. Der Fehler muss bei mir liegen und nicht bei der Substanz, die ich meinen Freund nenne.

Also habe ich alles versucht was in meiner Macht stand, um uns wieder normal zu kriegen. Ich sagte mir, wenn wir unter Freunden sind, dann ist es sicher zu trinken. Das hat uns immer viel Freude bereitet. Als die Freunde nach meinem Umzug in eine neue Stadt zu weit weg waren, entschied ich mich, dass telefonieren doch quasi das gleiche war. Also rief ich fortan jeden Abend jemand anders an, um einen Grund dafür zu finden die nächste Weinflasche zu öffnen. An den Abenden, an denen ich niemanden erreichte, dachte ich mir irgendwann, der Wein ist schon gekühlt, die Arbeit war anstrengend, ein Glas habe ich verdient. Dass es nie bei einem Glas blieb, ist wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen. Zur Schadensbegrenzung kaufte ich meinen Wein nur noch von Tag zu Tag ein, damit ich nicht zu viel trinken würde und am nächsten Tag noch arbeiten könnte. Außerdem wollte ich mir die Möglichkeit offenhalten am nächsten Tag nichts zu trinken. Diese Hoffnung schwand jedoch täglich spätestens um 21:30 Uhr und ich rannte noch schnell zur Tankstelle, um mich einzudecken.

Sehr erfolgreich waren meine Versuche unsere Beziehung zu normalisieren also nicht. Und so tat ich das einzig logische, dass mir zu diesem Zeitpunkt einfiel. Ich versteckte unsere Probleme. Ich hörte auf vor anderen zu trinken und wartete bis ich alleine zu Hause war. Ich versteckte meinen Flaschenmüll, kaufte jeden Abend woanders ein, um nicht aufzufallen und wurde mit all dem nur noch unglücklicher und einsamer. Wenn andere meine Probleme nicht vermuteten, dann konnte ich mir vielleicht noch ein wenig länger einreden, dass sie nicht da waren.

Irgendwann waren meine Tage nur noch erfüllt von Zwiespalt, Selbsthass und der Angst vor dem Abend. Angst davor was ich mir jeden Tag aufs Neue antat und wie es weitergehen würde. So sehr mich diese Gefühle auch erfüllten und von Innen auffraßen, hielt mich meine Angst trotzdem davon ab mir Hilfe zu suchen. Ich hatte zu sehr Angst vor dem Stigma des Alkoholikers. Also nahm ich jeden Tag all meine Kraft zusammen und spielte der Welt weiterhin mit einem Lächeln vor, dass es mir gut ging. Ich stand früh auf, kümmerte mich um den Hund, ging zur Arbeit und verschleierte was ich mir jeden Abend antat. Bis ich es nicht mehr konnte. Bis ich es nicht mehr wollte.


Ich kann heute nicht mehr sicher sagen was genau es war, weswegen ich es am 19. Juni 2020 schaffte „Nein“ zu sagen. Und den Tag darauf…und den Tag darauf. Ich weiß aber mit absoluter Sicherheit, dass es das schwerste und gleichzeitig befreiendste war, dass ich in meinem Leben jemals getan habe. Der Moment, an dem ich endlich die Kraft aufbringen konnte, mit dem Alkohol Schluss zu machen, war die größte Liebeserklärung an mich selbst.