101 Versuche
… die ich unternommen habe, bevor ich bereit war mit dem Alkohol Schluss zu machen!
Als meine Beziehung mit dem Alkohol mehr und mehr in die Brüche ging und ich das Gefühl bekam, dass er mir mehr nahm als er mir geben wollte, war ich noch lange nicht bereit den Schritt zu gehen diese Beziehung für immer zu beenden. Hier stand ich in einem Meer aus Scherben der hunderten geleerten Weinflaschen und war bereit für unsere Beziehung zu kämpfen und sie vor mir und der Welt zu verteidigen solange es mir irgendwie möglich war!
Es war schließlich nicht immer so! Wir hatten auch gute Zeiten! Richtig gute Zeiten! Wir hatten so viel Spaß gemeinsam! Auch, wenn ich zugeben muss, dass ich mich nicht mehr an alles davon klar erinnern kann, so bin ich mir sicher, dass es richtig gute Zeiten waren! Viele Jahre hat der Alkohol mich durch meine Jugend und meine Studienzeit begleitet. Wir haben so viel Großartiges und Schweres gemeinsam erlebt und durchstanden. So viele gemeinsame Freunde gefunden, auf Konzerten die Nächte durchgetanzt. Wir waren ein tolles Paar! Bis wir es nicht mehr waren.
Sicher, in den letzten Monaten und Jahren hat einiges begonnen zu bröckeln, wir hatten viele Abstürze und verbrachten zu viel Zeit miteinander, aber solche Probleme gibt es doch in jeder Beziehung. Wenn wir uns nur richtig anstrengen, dann kommen wir wieder zu unserer alten glorreichen Zeit zurück. Und mit wir, meine ich mich. Denn ich bin schuld an diesem Problem. Ich muss die Schuldige sein, denn alle anderen haben augenscheinlich eine normale Beziehung mit ihm. Ich wollte immer mehr und mehr und habe begonnen seine Liebe Tag für Tag aufs Neue einzufordern. Ich muss die Schwache in unserer Beziehung sein. Ich kann nicht Nein sagen und mit ihm umgehen wie man es „normalerweise“ tut. Der Fehler muss bei mir liegen und nicht bei der Substanz, die ich meinen Freund nenne.
Also habe ich alles versucht was in meiner Macht stand, um uns wieder normal zu kriegen. Ich sagte mir, wenn wir unter Freunden sind, dann ist es sicher zu trinken. Das hat uns immer viel Freude bereitet. Als die Freunde nach meinem Umzug in eine neue Stadt zu weit weg waren, entschied ich mich, dass telefonieren doch quasi das gleiche war. Also rief ich fortan jeden Abend jemand anders an, um einen Grund dafür zu finden die nächste Weinflasche zu öffnen. An den Abenden, an denen ich niemanden erreichte, dachte ich mir irgendwann, der Wein ist schon gekühlt, die Arbeit war anstrengend, ein Glas habe ich verdient. Dass es nie bei einem Glas blieb, ist wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen. Zur Schadensbegrenzung kaufte ich meinen Wein nur noch von Tag zu Tag ein, damit ich nicht zu viel trinken würde und am nächsten Tag noch arbeiten könnte. Außerdem wollte ich mir die Möglichkeit offenhalten am nächsten Tag nichts zu trinken. Diese Hoffnung schwand jedoch täglich spätestens um 21:30 Uhr und ich rannte noch schnell zur Tankstelle, um mich einzudecken.
Sehr erfolgreich waren meine Versuche unsere Beziehung zu normalisieren also nicht. Und so tat ich das einzig logische, dass mir zu diesem Zeitpunkt einfiel. Ich versteckte unsere Probleme. Ich hörte auf vor anderen zu trinken und wartete bis ich alleine zu Hause war. Ich versteckte meinen Flaschenmüll, kaufte jeden Abend woanders ein, um nicht aufzufallen und wurde mit all dem nur noch unglücklicher und einsamer. Wenn andere meine Probleme nicht vermuteten, dann konnte ich mir vielleicht noch ein wenig länger einreden, dass sie nicht da waren.
Irgendwann waren meine Tage nur noch erfüllt von Zwiespalt, Selbsthass und der Angst vor dem Abend. Angst davor was ich mir jeden Tag aufs Neue antat und wie es weitergehen würde. So sehr mich diese Gefühle auch erfüllten und von Innen auffraßen, hielt mich meine Angst trotzdem davon ab mir Hilfe zu suchen. Ich hatte zu sehr Angst vor dem Stigma des Alkoholikers. Also nahm ich jeden Tag all meine Kraft zusammen und spielte der Welt weiterhin mit einem Lächeln vor, dass es mir gut ging. Ich stand früh auf, kümmerte mich um den Hund, ging zur Arbeit und verschleierte was ich mir jeden Abend antat. Bis ich es nicht mehr konnte. Bis ich es nicht mehr wollte.
Ich kann heute nicht mehr sicher sagen was genau es war, weswegen ich es am 19. Juni 2020 schaffte „Nein“ zu sagen. Und den Tag darauf…und den Tag darauf. Ich weiß aber mit absoluter Sicherheit, dass es das schwerste und gleichzeitig befreiendste war, dass ich in meinem Leben jemals getan habe. Der Moment, an dem ich endlich die Kraft aufbringen konnte, mit dem Alkohol Schluss zu machen, war die größte Liebeserklärung an mich selbst.